Von kleinen Versuchen zu großen Marken
Im sächsischen Meißen hat alles begonnen: 1710 wurde hier Europas erste Porzellanmanufaktur gegründet. Die Kenntnis von der Herstellung des „Weißen Goldes“ verbreitete sich im Laufe des 18. Jahrhunderts daraufhin über ganz Europa. Während in Berlin, Wien, München, Fürstenberg und anderen Orten Manufakturen errichtet wurden, um die Ansprüche der Höfe, des Adels und der Reichen nach kunstvoll gestaltetem, repräsentativem Porzellan zu erfüllen, kamen in Oberfranken und Nordwestböhmen mutige und weitsichtige Unternehmer mit anderen Zielsetzungen zum Zug.
Bereits 1792 wurde in Schlaggenwald (heute Horní Slavkov) die erste böhmische Porzellanfabrik errichtet. Wie so häufig waren auch hier thüringische Fachleute und Unternehmer als Geburtshelfer beteiligt. Wenig später, 1794, gelang es dem Oberforstmeister des Graf Thun’schen Gutes in Klösterle (Klášterec nad Ohří), Mikuláš Webr, mit Hilfe weiterer Experten Porzellan herzustellen. Nicht zuletzt durch preisgünstige Produkte konnte die Fabrik die Kundschaft überzeugen. Die Qualität steigerte sich, aber auch die Konkurrenz nahm zu. Andere Unternehmer orientierten sich an diesem Erfolg und machten sich auch an die Herstellung und den Verkauf.
Etwa zur gleichen Zeit zeigten sich erste Anfänge einer Porzellanherstellung im Fichtelgebirge. Bei einer Reise in die böhmischen Bäder machte der aus Thüringen stammende Porzelliner Carolus Magnus Hutschenreuther in Hohenberg an der Eger, an der Grenze zu Böhmen, Halt. Dort erfuhr er, dass sich in unmittelbarerer Nähe vielversprechende Vorkommen „weißer Erde“ fänden. Es handelte sich um die begehrte Porzellanerde, das Kaolin, neben Quarz und Feldspat zentraler Bestandteil des Porzellans. Hutschenreuther erkannte sofort die Chance und ließ sich 1814 in dem kleinen Ort nieder, um Porzellan herzustellen. Nach langwierigen Verhandlungen erteilte ihm der bayerische Staat 1822 hierfür die offizielle Konzession. Hohenberg lag günstig, nicht weit entfernt vom böhmischen Bäderdreieck. Die dort kurenden Gäste aus dem wohlhabendem Bürgertum und dem Adel waren seit jeher dankbare Kunden. Trinkbecher, kunstvoll bemalte Tassen, Pfeifenköpfe und ähnliche Mitbringsel fanden guten Absatz.
Porzellan mit Weltruf
Lorenz Hutschenreuther, der Sohn des Firmengründers, eignete sich in Hohenberg nicht nur viele Kenntnisse an, sondern besaß auch den für einen innovativen Unternehmer notwendigen Unabhängigkeitsdrang. Er ließ sich sein Erbe auszahlen und gründete in Selb 1857 sein eigenes Werk, mit dem er Porzellan erstmals industriell in Serienfertigung herstellen konnte. Kaolin bezog er aus den nahen böhmischen Vorkommen. Feldspat und Quarz stammten aus dem Forstrevier um Selb. Die zur Befeuerung der Rundöfen benötigte Kohle gab es ebenfalls ausreichend in Böhmen. Die Versorgung mit Roh- und Brennstoffen, der Warentransport und Absatz erhielten mit dem Bau der Eisenbahnlinie zwischen Hof und Eger einen kräftigen Schub. Die Ansiedlung weiterer Porzellanfabriken ließ daher nicht lange auf sich warten. Geradezu im Jahrestakt entstand auf beiden Seiten der Grenze eine Fabrik nach der anderen. Die Modernität in der Ausstattung und Konzeption, die niedrigen Löhne und die günstige Lage für den Bezug der Rohstoffe sorgten für einen Vorsprung vor anderen Porzellanregionen. Auf diese Weise wurde das nordöstliche Bayern bis zum Ersten Weltkrieg zur bedeutendsten Porzellanregion Europas, mit Selb als „Weltstadt des Porzellans“.
1879 betrat der Porzellanmaler Philipp Rosenthal die Bühne. Er begann seine Laufbahn in Erkersreuth bei Selb mit der Gründung einer Malerei, wobei er das Porzellan zunächst von Lorenz Hutschenreuther und aus Jacob Zeidlers Porzellanfabrik bezog. Vier Mitarbeiter zählte sein Dekorationsbetrieb, die ersten Erzeugnisse fuhr seine Frau Mathilde noch mit dem Handwagen zum Bahnhof. Bereits zehn Jahre später arbeiteten 200 Menschen in seinem Betrieb. Er erweiterte, gründete in Selb eine Porzellanfabrik, kaufte weitere in Kronach und in Marktredwitz dazu. Weitgereist und vielseitig interessiert wie er war, hatte er ein Gespür für die Trends der Zeit. 1908 kam eine Kunstabteilung dazu, 1918 eine Niederlassung in Karlsbad. Aus kleinen Anfängen entstand ein bis heute erfolgreich geführter Konzern, der weltweit für anspruchsvolles, hochwertiges Porzellan steht. In Böhmen entwickelte sich Altrohlau (heute Stará Role) zu einem der bedeutendsten europäischen Porzellanstandorte. Neben der 1812 von Benedikt Haßlacher gegründeten Fabrik siedelte sich 1883 die Porzellanfabrik „Viktoria“ an. Auch der Nachbarort Neurohlau (Nová Role) erhielt 1921 ein Werk, das heute als Teil der Firma Thun 1794 a.s. produziert.
Viele Krisen haben die Porzellanbranche im 20. Jahrhundert erschüttert. Die industrielle Blütezeit ist Geschichte. Dennoch können sich einige kleine und große Unternehmen erfolgreich auf dem globalen Markt behaupten. Das gilt auch für ein relativ junges Unternehmen wie die Porzellanmanufaktur Dibbern, die in Hohenberg an der Eger die traditionelle Handwerkskunst in Verbindung mit einer „zeitlosen“ Formensprache weiterführt. Es gibt viele gute Gründe, an die Zukunft des Porzellans zu glauben – in Bayern wie in Böhmen. So wie gutes Essen und Unterhaltung am gut gedeckten Tisch hat auch die Tafelkultur nicht ausgedient. Porzellan hat dank jungen Designs und der Wiederentdeckung von Klassikern einen hohen Stellenwert.
Es sind nicht zuletzt auch die geschickten Hersteller, die dem bayerischen und böhmischen Porzellan in diesem Zusammenhang ihre charakteristische Ausprägung und ihre hohe Qualität verleihen. Es sind die Modelleure, die Gießer, Dreher, Maler, die Druckerinnen und viele andere mehr. Man sagt zu Recht: Hundert Hände machen Porzellan. Und die Menschen sind ihren Fabriken verbunden, eine Generation nach der anderen geht in die Fabrik, arbeitet dort und sorgt dafür, dass die kleinen Dörfer und Städte dieser Regionen im Norden Bayerns und im Nordwesten Böhmens eng mit dem Porzellan verbunden sind.
Auch wenn nicht mehr wie vor 100 Jahren die vielen Schornsteine der Brennöfen schwarzen Rauch ausstoßen – heute wird mit dem umweltfreundlichen Gas gebrannt – besteht die Verbindung zwischen den Porzellankulturen beidseits der Grenze auch in Zukunft weiter. Viele Museen, etwa in Karlovy Vary, Sokolov, Klášterec nad Ohří, Nová Role, Selb oder Hohenberg dokumentieren das vielfältige Schaffen dieser kreativen Branche. Outlet-Center und Läden bieten aktuelle Produkte an. Und die Porzellanstrasse verbindet in kongenialer Weise zwei Regionen, die diesem einzigartigen Werkstoff verpflichtet sind, über die Staatsgrenze hinweg.
Thomas Schilling
Böhmische Porzellanproduktion live –
Zu Besuch in Nová Role
Es gibt nicht viele Gelegenheiten, Porzellanherstellern bei der Arbeit zuschauen zu können. Doch die Gesellschaft Thun 1794 a.s. im böhmischen Nová Role, rund 15 Kilometer nördlich von Loket am Fuß des Erzgebirges gelegen, ist eine Ausnahme. Das Unternehmen lädt zu einer geführten Tour ein. Diese beginnt im 2013 eröffneten Besucherzentrum und nimmt die Gäste mit auf eine Zeitreise zur wechselvollen Geschichte des Porzellans in der Karlsbader Region. Thun 1794 ist vor allem für Gebrauchsporzellan in Ess-, Kaffee- und Teegarnituren bekannt. Die Marke geht auf zwei Pioniere der Porzellanindustrie in Westböhmen zurück, Graf Jan Josef Antonín Thun und den Verwalter seiner Forstwirtschaft, Mikuláš Webr. Diese führten am 15. September 1794 in Klášterec nad Ohří in einem Rundofen das erste Ausbrennen von Porzellanprodukten durch. Die Fabrik in Nová Role entstand 1921 und kam 2009 in den Besitz der Gesellschaft Thun 1794 a.s. Teilnehmer der Führung erhalten dabei auch einen Einblick in die Produktionsprozesse des modernen Unternehmens. Ein Abstecher in den Werksverkauf rundet den Besuch ab. Anmeldungen über den Verein „Archa Loket“ bzw. die Webseite des Unternehmens unter „Kontakt“.